Gu­tes Rad muss nicht teu­er sein

1. Nov 2023 | Pres­se, Pres­se 2023 | 0 Kom­men­ta­re

Von sans souci

Eine Fahr­rad­werk­statt, wie es sie nur sel­ten gibt. Das Ca­ri­tas-Pro­jekt „Rad und Tat“ un­ter­stützt Ora­ni­en­burgs Rad­fah­re­rin­nen und Rad­fah­rer mit nach­hal­ti­gen und kos­ten­güns­ti­gen Lö­sun­gen. Mög­lich wird dies durch die Auf­ar­bei­tung und das Re­cy­cling von ge­spen­de­ten al­ten Fahrrädern.

Kurz vor acht Uhr mor­gens geht es los. Kur­ze Team­be­spre­chung, dann ste­hen auch schon die ers­ten Kun­den vor der Tür der klei­nen Fahr­rad­werk­statt an der Ber­li­ner Stra­ße in Ora­ni­en­burg. Das rosa Fahr­rad mit dem Kin­der­sitz ist ein klas­si­scher Fall: Spei­chen und Licht sind ka­putt. Kein Pro­blem für das Team von „Rad und Tat“. Der Name ist Pro­gramm: Hier wird auch für das kniff­ligs­te Pro­blem eine in­di­vi­du­el­le und nach­hal­ti­ge Lö­sung ge­fun­den. Fix ist das Fahr­rad auf­ge­bockt. Tho­mas He­be­streit, Lei­ter der Fahr­rad­werk­statt, ver­teilt Auf­ga­ben und er­klärt, was zu tun ist. Dann ma­chen sich vier der ak­tu­ell sechs Män­ner im Team an ihre Ar­beit. Pe­ter Mi­cha­el Sau­er und Frank Eckeldt be­gin­nen, sich das ka­put­te Fahr­rad an­zu­se­hen. „Un­se­re Kun­den freu­en sich, dass sie vor Ort eine Werk­statt ha­ben und wir schnell und un­kom­pli­ziert Re­pa­ra­tu­ren durch­füh­ren kön­nen“, er­klärt Tho­mas He­be­streit. „Wo­an­ders muss man erst ei­nen Ter­min ma­chen und dann lan­ge warten.“

Doch das ist nicht der ein­zi­ge Aspekt, den die Werk­statt­kun­den schät­zen. Up- und Re­cy­cling ist hier das Stich­wort. „Rad und Tat“, das zur Ca­ri­tas Werk­statt St. Jo­han­nes­berg ge­hört, nimmt näm­lich Spen­den­rä­der ent­ge­gen, be­rei­tet die­se für den Wie­der­ver­kauf zu über­schau­ba­ren Prei­sen auf oder zer­legt sie in ihre Ein­zel­tei­le. Letz­te­re nut­zen Tho­mas He­be­streit und sein Team für Re­pa­ra­tu­ren. Und das macht den Ser­vice oft güns­ti­ger. „Wenn Kun­den zu uns kom­men, den­ken sie oft, dass sie meh­re­re Hun­dert Euro be­zah­len müs­sen. Aber nicht je­der hat so viel Geld üb­rig“, be­tont Tho­mas He­be­streit. „Wir über­le­gen uns dann, wie wir mit ge­brauch­ten Tei­len eine güns­ti­ge Lö­sung hin­be­kom­men. Da­für sind uns un­se­re Kun­den un­glaub­lich dankbar.“

Ein Ku­chen zum Dank

Auch sonst geht es nah­bar und freund­schaft­lich bei „Rad und Tat“ zu. Fa­mi­li­en kom­men eben­falls, zum Bei­spiel wenn der Nach­wuchs ein grö­ße­res Rad be­nö­tigt. Tho­mas He­be­streit kann das alte meist un­kom­pli­ziert in ein grö­ße­res Mo­dell um­tau­schen. Da bringt der ein oder an­de­re Kun­de zum Dank auch schon mal selbst­ge­ba­cke­nen Ku­chen mit. Kein Wun­der also, dass sich die Ein­rich­tung als Ge­heim­tipp her­um­ge­spro­chen hat – und selbst Moun­tain­bike- und Renn­rad­fah­rer ihre Re­pa­ra­tu­ren hier aus­füh­ren lassen.

Aber noch mit ei­nem wei­te­ren Nach­hal­tig­keits­aspekt punk­tet der klei­ne La­den. Hier kön­nen In­ter­es­sen­ten ei­nes von zwei elek­tri­schen Las­ten­rä­dern lei­hen. Per­fekt für den Be­such im Bau­markt: Enor­me 120 Ki­lo­gramm las­sen sich da­mit je­weils trans­por­tie­ren. Tho­mas He­be­streit ist es wich­tig, Men­schen ei­nen An­stoß zu ge­ben, das Auto auch mal zu Hau­se zu las­sen. „Ei­ni­ge Kun­den ha­ben die Las­ten­rä­der hier durch Zu­fall ent­deckt und schaf­fen sich nun ein ei­ge­nes an“, er­zählt er. „Das ist na­tür­lich toll, weil das ein Auto we­ni­ger auf der Stra­ße be­deu­tet.“ Die Las­ten­rä­der von „Rad und Tat“ wer­den von der Kom­mu­ne be­reit­ge­stellt. Die MBS för­dert das Pro­jekt, so­dass da­für eine aus­rei­chend gro­ße, fle­xi­ble und ge­si­cher­te Fahr­rad­ga­ra­ge mit La­de­mög­lich­keit er­wor­ben wer­den konnte.

Krea­ti­ve Ideen sind gefragt

Beim rosa Fahr­rad mit dem Kin­der­sitz sind die Rä­der in­zwi­schen ab. Nicht im­mer ist es ein­fach, eine pas­sen­de Lö­sung zu fin­den. Ins­be­son­de­re wenn alte Ein­zel­tei­le re­cy­celt wer­den. Fahr­rad­tei­le sind nicht un­be­dingt ge­normt. Das Team muss je­des­mal neu an die Sa­che her­an­ge­hen. Am Tag 20-mal den­sel­ben Hand­griff ma­chen? Das gibt es bei Rad und Tat nicht. Vor al­lem die Auf­be­rei­tung der Spen­den­rä­der ist eine Her­aus­for­de­rung. Ver­ros­te­te Ein­zel­tei­le zu lö­sen, auf­zu­ar­bei­ten und neu zu ver­schrau­ben, kos­tet En­er­gie, Kon­zen­tra­ti­on und Kraft. „Manch­mal ste­hen wir hier zu fünft am Schraub­stock, um eine Sat­tel­stüt­ze ab­zu­be­kom­men“, er­zählt Tho­mas He­be­streit. „Wir grei­fen hier nicht ein­fach ins Re­gal und schrau­ben ei­nen neu­en Rei­fen an. Up­cy­cling er­for­dert auf je­den Fall Kreativität.“

Ge­nau das schätzt Pe­ter Mi­cha­el Sau­er, der seit April da­bei ist: „Mal Licht, mal Kur­bel, mal Len­ker, mal Ket­ten­schal­tung, mal Rei­fen aus­wech­seln: Die Ab­wechs­lung macht mir Spaß.“ Be­vor er bei „Rad und Tat“ ein­ge­stie­gen ist, hat­te er nie mit Fahr­rä­dern zu tun. „Ich muss mich im­mer noch rein­wursch­teln“, er­klärt er. „Ich bin 63 und da­mit nicht mehr der Jüngs­te. Ich ler­ne halt nicht mehr so schnell.“ Hier stört das nie­man­den. Denn ne­ben dem öko­lo­gi­schen Aspekt un­ter­schei­det sich „Rad und Tat“ noch in ei­ner wei­te­ren Sa­che von vie­len an­de­ren Fahr­rad­werk­stät­ten. Wer hier un­ter An­lei­tung von Tho­mas He­be­streit be­schäf­tigt ist, kann auf­grund ei­ner Be­hin­de­rung zu­min­dest vor­über­ge­hend nicht auf dem all­ge­mei­nen Ar­beits­markt arbeiten.

Das Pro­jekt wur­de vor drei Jah­ren von der Ca­ri­tas-Werk­statt St. Jo­han­nes­berg ins Le­ben ge­ru­fen. Sie bil­det mit ih­rem Pro­gramm ei­nen Le­bens­mit­tel­punkt für rund 430 Men­schen mit Be­hin­de­rung. Die meis­ten le­ben mit Lern­schwie­rig­kei­ten oder psy­chi­schen Er­kran­kun­gen. Wer län­ger braucht als an­de­re, sich un­ge­wöhn­lich ver­hält, lang­sam lernt oder eng­ma­schi­ge An­lei­tung be­nö­tigt, für den ist ein üb­li­cher Ar­beits­tag kaum zu be­wäl­ti­gen. Die Werk­statt bie­tet ei­nen ge­schütz­te­ren Raum, in dem Men­schen mit Be­ein­träch­ti­gun­gen ihre Ta­len­te und Wün­sche aus­lo­ten und ihre Fä­hig­kei­ten wei­ter­ent­wi­ckeln kön­nen. Da­bei ste­hen ih­nen ver­schie­de­ne Be­treu­ungs- und Be­ra­tungs­leis­tun­gen zur Ver­fü­gung wie Psycho- und Phy­sio­the­ra­pie, Pfle­ge­diens­te, Sport­an­ge­bo­te oder Be­rufs­schul­un­ter­richt. Die För­de­rung er­mög­licht ei­nem Teil der Be­schäf­tig­ten, auf dem all­ge­mei­nen Ar­beits­markt Fuß zu fas­sen. „Werk­statt ist kei­ne Sack­gas­se“, sagt Chris­toph Lau, Lei­ter der Ca­ri­tas-Werk­statt St. Jo­han­nes­berg. „Es ist eine Start­bahn, ge­ra­de für jun­ge Men­schen, die aus der För­der­schu­le kom­men. Sie brau­chen nur et­was län­ger als ein Azu­bi, der die zehn­te Klas­se ab­sol­viert hat.“ Je nach Ein­schrän­kung ist die Ar­beit in ei­nem all­täg­li­chen Job aber auch dau­er­haft nicht mög­lich. Des­we­gen bie­tet die Werk­statt auch die Mög­lich­keit, sich in ei­nem si­che­ren Rah­men lang­fris­tig sinn­voll einzubringen.

Dass das bei „Rad und Tat“ ge­lingt, dar­in sind sich alle in der klei­nen Fahr­rad­werk­statt ei­nig. Und für die gute Ar­beit, die hier ge­leis­tet wird, sind die vie­len Kun­den je­den Tag der bes­te Beweis.

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