Gutes Rad muss nicht teuer sein
Gutes Rad muss nicht teuer sein
Von sans souci
Eine Fahrradwerkstatt, wie es sie nur selten gibt. Das Caritas-Projekt „Rad und Tat“ unterstützt Oranienburgs Radfahrerinnen und Radfahrer mit nachhaltigen und kostengünstigen Lösungen. Möglich wird dies durch die Aufarbeitung und das Recycling von gespendeten alten Fahrrädern.
Kurz vor acht Uhr morgens geht es los. Kurze Teambesprechung, dann stehen auch schon die ersten Kunden vor der Tür der kleinen Fahrradwerkstatt an der Berliner Straße in Oranienburg. Das rosa Fahrrad mit dem Kindersitz ist ein klassischer Fall: Speichen und Licht sind kaputt. Kein Problem für das Team von „Rad und Tat“. Der Name ist Programm: Hier wird auch für das kniffligste Problem eine individuelle und nachhaltige Lösung gefunden. Fix ist das Fahrrad aufgebockt. Thomas Hebestreit, Leiter der Fahrradwerkstatt, verteilt Aufgaben und erklärt, was zu tun ist. Dann machen sich vier der aktuell sechs Männer im Team an ihre Arbeit. Peter Michael Sauer und Frank Eckeldt beginnen, sich das kaputte Fahrrad anzusehen. „Unsere Kunden freuen sich, dass sie vor Ort eine Werkstatt haben und wir schnell und unkompliziert Reparaturen durchführen können“, erklärt Thomas Hebestreit. „Woanders muss man erst einen Termin machen und dann lange warten.“
Doch das ist nicht der einzige Aspekt, den die Werkstattkunden schätzen. Up- und Recycling ist hier das Stichwort. „Rad und Tat“, das zur Caritas Werkstatt St. Johannesberg gehört, nimmt nämlich Spendenräder entgegen, bereitet diese für den Wiederverkauf zu überschaubaren Preisen auf oder zerlegt sie in ihre Einzelteile. Letztere nutzen Thomas Hebestreit und sein Team für Reparaturen. Und das macht den Service oft günstiger. „Wenn Kunden zu uns kommen, denken sie oft, dass sie mehrere Hundert Euro bezahlen müssen. Aber nicht jeder hat so viel Geld übrig“, betont Thomas Hebestreit. „Wir überlegen uns dann, wie wir mit gebrauchten Teilen eine günstige Lösung hinbekommen. Dafür sind uns unsere Kunden unglaublich dankbar.“
Ein Kuchen zum Dank
Auch sonst geht es nahbar und freundschaftlich bei „Rad und Tat“ zu. Familien kommen ebenfalls, zum Beispiel wenn der Nachwuchs ein größeres Rad benötigt. Thomas Hebestreit kann das alte meist unkompliziert in ein größeres Modell umtauschen. Da bringt der ein oder andere Kunde zum Dank auch schon mal selbstgebackenen Kuchen mit. Kein Wunder also, dass sich die Einrichtung als Geheimtipp herumgesprochen hat – und selbst Mountainbike- und Rennradfahrer ihre Reparaturen hier ausführen lassen.
Aber noch mit einem weiteren Nachhaltigkeitsaspekt punktet der kleine Laden. Hier können Interessenten eines von zwei elektrischen Lastenrädern leihen. Perfekt für den Besuch im Baumarkt: Enorme 120 Kilogramm lassen sich damit jeweils transportieren. Thomas Hebestreit ist es wichtig, Menschen einen Anstoß zu geben, das Auto auch mal zu Hause zu lassen. „Einige Kunden haben die Lastenräder hier durch Zufall entdeckt und schaffen sich nun ein eigenes an“, erzählt er. „Das ist natürlich toll, weil das ein Auto weniger auf der Straße bedeutet.“ Die Lastenräder von „Rad und Tat“ werden von der Kommune bereitgestellt. Die MBS fördert das Projekt, sodass dafür eine ausreichend große, flexible und gesicherte Fahrradgarage mit Lademöglichkeit erworben werden konnte.
Kreative Ideen sind gefragt
Beim rosa Fahrrad mit dem Kindersitz sind die Räder inzwischen ab. Nicht immer ist es einfach, eine passende Lösung zu finden. Insbesondere wenn alte Einzelteile recycelt werden. Fahrradteile sind nicht unbedingt genormt. Das Team muss jedesmal neu an die Sache herangehen. Am Tag 20-mal denselben Handgriff machen? Das gibt es bei Rad und Tat nicht. Vor allem die Aufbereitung der Spendenräder ist eine Herausforderung. Verrostete Einzelteile zu lösen, aufzuarbeiten und neu zu verschrauben, kostet Energie, Konzentration und Kraft. „Manchmal stehen wir hier zu fünft am Schraubstock, um eine Sattelstütze abzubekommen“, erzählt Thomas Hebestreit. „Wir greifen hier nicht einfach ins Regal und schrauben einen neuen Reifen an. Upcycling erfordert auf jeden Fall Kreativität.“
Genau das schätzt Peter Michael Sauer, der seit April dabei ist: „Mal Licht, mal Kurbel, mal Lenker, mal Kettenschaltung, mal Reifen auswechseln: Die Abwechslung macht mir Spaß.“ Bevor er bei „Rad und Tat“ eingestiegen ist, hatte er nie mit Fahrrädern zu tun. „Ich muss mich immer noch reinwurschteln“, erklärt er. „Ich bin 63 und damit nicht mehr der Jüngste. Ich lerne halt nicht mehr so schnell.“ Hier stört das niemanden. Denn neben dem ökologischen Aspekt unterscheidet sich „Rad und Tat“ noch in einer weiteren Sache von vielen anderen Fahrradwerkstätten. Wer hier unter Anleitung von Thomas Hebestreit beschäftigt ist, kann aufgrund einer Behinderung zumindest vorübergehend nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten.
Das Projekt wurde vor drei Jahren von der Caritas-Werkstatt St. Johannesberg ins Leben gerufen. Sie bildet mit ihrem Programm einen Lebensmittelpunkt für rund 430 Menschen mit Behinderung. Die meisten leben mit Lernschwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen. Wer länger braucht als andere, sich ungewöhnlich verhält, langsam lernt oder engmaschige Anleitung benötigt, für den ist ein üblicher Arbeitstag kaum zu bewältigen. Die Werkstatt bietet einen geschützteren Raum, in dem Menschen mit Beeinträchtigungen ihre Talente und Wünsche ausloten und ihre Fähigkeiten weiterentwickeln können. Dabei stehen ihnen verschiedene Betreuungs- und Beratungsleistungen zur Verfügung wie Psycho- und Physiotherapie, Pflegedienste, Sportangebote oder Berufsschulunterricht. Die Förderung ermöglicht einem Teil der Beschäftigten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. „Werkstatt ist keine Sackgasse“, sagt Christoph Lau, Leiter der Caritas-Werkstatt St. Johannesberg. „Es ist eine Startbahn, gerade für junge Menschen, die aus der Förderschule kommen. Sie brauchen nur etwas länger als ein Azubi, der die zehnte Klasse absolviert hat.“ Je nach Einschränkung ist die Arbeit in einem alltäglichen Job aber auch dauerhaft nicht möglich. Deswegen bietet die Werkstatt auch die Möglichkeit, sich in einem sicheren Rahmen langfristig sinnvoll einzubringen.
Dass das bei „Rad und Tat“ gelingt, darin sind sich alle in der kleinen Fahrradwerkstatt einig. Und für die gute Arbeit, die hier geleistet wird, sind die vielen Kunden jeden Tag der beste Beweis.