Hand in Hand
Lena Kretzschmar führt einen schwarzen Baumwollfaden durch das Geflecht des Webrahmens. Ihr gegenüber sitzt die 55-jährige Petra und schaut schweigend und scheinbar teilnahmslos zu. Lena ermuntert sie mitzumachen. Die Bundesfreiwillige wiederholt den Vorgang geduldig, bis Petra langsam Mut fasst und den Faden mithilfe eines hölzernen Webschiffchens selber durch den Webrahmen zieht.
Aus dem Hintergrund beobachtet Mary die beiden. Gerne möchte auch sie mitmachen und zeigen, was sie kann – lieber beim Weben als bei der ihr eigentlich zugeteilten Arbeit. Schließlich wird das Weben ja heute auch noch fotografiert. Nach einiger Zeit wird es Petra zu viel, ihre Konzentration schwindet. Mary springt gern für sie ein und übernimmt. Lena arbeitet nun Hand in Hand mit Mary am Webrahmen, die gleich eifrig bei der Sache ist und den Faden geschickt durch das Geflecht führt.
Kreativ sein
Lena hatte schon immer eine kreative Ader. Bereits in der Schulzeit hat sie mit Leidenschaft musiziert, gezeichnet oder Gebrauchsgegenstände entworfen. Als kleine Schwester eiferte sie zunächst ihren beiden älteren Brüdern nach, die in technischen Studiengängen an der Uni eingeschrieben sind. Nach dem Abi wollte die 19-Jährige Pharmazie studieren, aber der Notendurchschnitt reichte nicht aus, um sich den Studienwunsch zu erfüllen. Als auch die Bewerbungsfristen für mögliche Ausbildungsberufe bereits verstrichen waren, musste kurzfristig eine sinnvolle Alternative her. Da sowohl ihre Eltern als auch ihre Tante und Oma in sozialen Berufen tätig sind, kam Lena auf die Idee, sich im Bundesfreiwilligendienst zu engagieren und die Zeit als Orientierungsjahr zu nutzen. So kam Lena zur Caritas-Werkstatt St. Johannesberg.
Die unterschiedlichen Angebote der Caritas-Werkstatt St. Johannesberg bieten den fünf Bundesfreiwilligen, die hier wie Lena ein Jahr lang Erfahrungen für ihren weiteren Lebensweg sammeln können, vielfältige Orientierungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Neben einer Holzverarbeitung gibt es unter anderem eine Metallverarbeitung, Garten- und Landschaftspflege oder die Großküche “Cantina” samt Cateringservice. Die festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind entsprechend als Techniker, Köche oder Sozialpädagogen, Gartenbauingenieure, Verwaltungsangestellte oder Heilerziehungspfleger ausgebildet. Tatkräftige Unterstützung erhalten sie von den Bundesfreiwilligen, die die Beschäftigten bei ihrer Arbeit und den alltäglichen Verrichtungen begleiten.
Hilfe anbieten
Lenas Tag in St. Johannesberg beginnt um 7:00 Uhr. Sie bereitet ein gemeinsames Frühstück vor, bespricht sich mit den Kolleginnen und Kollegen in der Gruppenleitersitzung und begleitet anschließend einige der Beschäftigten zur Arbeit. Lenas Gruppe besteht insgesamt aus sieben Beschäftigten. Drei von ihnen sind auf einen Rollstuhl angewiesen und teilweise stark in den Bewegungen der Arme und Hände eingeschränkt. Die erforderliche Begleitung wird durch zwei hauptamtliche Heilerziehungspfleger gewährleistet. Lena hilft dort, wo sie benötigt wird. Heute unterstützt sie Petra und Mary bei den Webarbeiten. Alternative kreative Angebote für die Beschäftigten in Lenas Gruppe sind “Seife gießen” und “Karten basteln”. Auch ein Ruheraum zum “Runter kommen” steht bei Bedarf jederzeit für die Beschäftigten zur Verfügung.
Ab 11:30 Uhr wird in der Cantina ein gemeinsames Mittagessen angeboten. Heute kümmert sich Lena um den 20-jährigen Rene, der in seinen Bewegungen stark eingeschränkt ist und Hilfe beim Essen benötigt. Die BFDlerin püriert ein Nudelgericht und setzt sich in der hauseigenen Küche zusammen mit ihm an den Esstisch. Zum Nachtisch gibt es eine doppelte Portion Früchtejogurt, die Rene anstandslos verputzt. Mit einer Serviette gewinnt die Bundesfreiwillige Renes Aufmerksamkeit für ein gemeinsames Foto. Der scheint von dem knisternden Papier ganz angetan zu sein und reagiert positiv auf die kleine Unterhaltung außer der Reihe. Danach geht Lena gemeinsam mit ihrer Gruppe zum Essen in die Cantina.
Am frühen Nachmittag kehren die ersten Beschäftigten in ihre Wohnungen zurück. Dazu werden einige angekleidet und begleitet. Lena begleitet heute Marco von der Werkstatt zu seiner Wohnung. Doch erst einmal unterstützt sie ihn beim Ankleiden. Der 31-Jährige ist schweigsam und zunächst etwas unsicher. Schließlich willigt er aber ein, sich mit Lena zusammen fotografieren zu lassen. Er freut sich über die Aufmerksamkeit und Lenas vertraute Hilfe gibt ihm seine gewohnte Sicherheit zurück. Gemeinsam meistern die beiden souverän das nicht ganz einfache Ankleiden- ein kleines Erfolgserlebnis, das beiden sichtlich gut tut. Nachdem sie Marco zu seiner Wohnung gebracht hat, endet für Lena gegen 15:30 Uhr der Tag in St. Johannesberg.
Locker bleiben
“Man muss lernen, sich den Beschäftigten gegenüber zu beweisen, damit sie auf einen hören. Dann kann man auch ganz offen und frei mit ihnen arbeiten”, berichtet Lena von ihrer ersten Zeit in der Einsatzstelle. Dabei haben die Beschäftigten sie von Beginn an herzlich aufgenommen. Mit der Zeit lernte Lena dann, behutsam ihre Autorität gegenüber den Beschäftigten zu behaupten, um gemeinsam mit ihnen den Alltag zu gestalten. Die Gruppenleiter stärkten der Bundesfreiwilligen dabei von Anfang an den Rücken und erleichterten ihr diesen Prozess. Auch das tägliche Gespräch mit den hauptamtlichen Betreuerinnen und Betreuern half ihr dabei, im Umgang mit den Beschäftigten sicherer und selbstbewusster zu werden.
Direkt nach dem Abi studieren zu müssen? Von diesem selbst auferlegten Druck hat sich Lena nach der ersten Hälfte ihres Bundesfreiwilligendienstes befreit. Zunächst fiel es ihr schwer, sich von ihrem Perfektionismus zu lösen. Aber ihre Erfahrungen mit den Beschäftigten, die durchaus ihren eigenen Kopf haben können und nicht alles perfekt machen, haben sie etwas anderes gelehrt: Die Dinge lockerer sehen, sich einbringen und die Menschen nehmen, wie sie sind.
Erfahrung sammeln
Diese Entwicklungen empfindet die 19-Jährige als einen ungeheuren Schatz, den sie im St. Johannesberg erhalten hat.
Auch ihre Berufs- und Studienwünsche haben sich gewandelt. In ihrer Gemeinde hat sie sich auf eine Stelle als Erzieherin mit berufsbegleitender Ausbildung beworben. Sobald es geht, will sie sich parallel auch für den Studiengang “Soziale Arbeit” bewerben. Der Bedarf für diese Berufsrichtung ist groß und ihre Aussichten auf eine Anstellung sind vielversprechend. Doch erst einmal widmet sich Lena voll und ganz ihrem Bundesfreiwilligendienst und den Beschäftigten in ihrer Gruppe.
Soziale und gesellschaftliche Verantwortung
In der Caritas-Werkstatt St. Johannesberg in Oranienburg arbeiten ca. 400 Menschen mit einer Behinderung in einem hochmodernen Fertigungs- und Dienstleistungsbetrieb. Seit 1991 werden die Beschäftigten hier mit unterschiedlichen Tätigkeiten in verschiedenen Produktionsprozessen eingebunden und können so am Arbeitsleiben teilhaben. Die Werkstätten sind über drei Standorte in Raum Oranienburg verteilt und kooperieren eng mit örtlichen Handwerksbetrieben und der Industrie in der Umgebung. Die Bundesfreiwilligen unterstützen die hauptamtlichen Fachkräfte bei der Betreuung und Anleitung in einer Vielzahl von Berufsfeldern. Dabei fördern sie die beruflichen und persönlichen Kompetenzen der Beschäftigten. Die ganze Vielfalt der Angebote gibt es unter www.caritas-werkstatt.com