Hand in Hand

Hand in Hand

Hand in Hand

Von Ste­fan This­sen | Echt – Das Heft für den Bundesfreiwilligendienst 

Lena Kretz­schmar führt ei­nen schwar­zen Baum­woll­fa­den durch das Ge­flecht des Web­rah­mens. Ihr ge­gen­über sitzt die 55-jäh­ri­ge Pe­tra und schaut schwei­gend und schein­bar teil­nahms­los zu. Lena er­mun­tert sie mit­zu­ma­chen. Die Bun­des­frei­wil­li­ge wie­der­holt den Vor­gang ge­dul­dig, bis Pe­tra lang­sam Mut fasst und den Fa­den mit­hil­fe ei­nes höl­zer­nen Web­schiff­chens sel­ber durch den Web­rah­men zieht.

Aus dem Hin­ter­grund be­ob­ach­tet Mary die bei­den. Ger­ne möch­te auch sie mit­ma­chen und zei­gen, was sie kann – lie­ber beim We­ben als bei der ihr ei­gent­lich zu­ge­teil­ten Ar­beit. Schließ­lich wird das We­ben ja heu­te auch noch fo­to­gra­fiert. Nach ei­ni­ger Zeit wird es Pe­tra zu viel, ihre Kon­zen­tra­ti­on schwin­det. Mary springt gern für sie ein und über­nimmt. Lena ar­bei­tet nun Hand in Hand mit Mary am Web­rah­men, die gleich eif­rig bei der Sa­che ist und den Fa­den ge­schickt durch das Ge­flecht führt.

Krea­tiv sein
Lena hat­te schon im­mer eine krea­ti­ve Ader. Be­reits in der Schul­zeit hat sie mit Lei­den­schaft mu­si­ziert, ge­zeich­net oder Ge­brauchs­ge­gen­stän­de ent­wor­fen. Als klei­ne Schwes­ter ei­fer­te sie zu­nächst ih­ren bei­den äl­te­ren Brü­dern nach, die in tech­ni­schen Stu­di­en­gän­gen an der Uni ein­ge­schrie­ben sind. Nach dem Abi woll­te die 19-Jäh­ri­ge Phar­ma­zie stu­die­ren, aber der No­ten­durch­schnitt reich­te nicht aus, um sich den Stu­di­en­wunsch zu er­fül­len. Als auch die Be­wer­bungs­fris­ten für mög­li­che Aus­bil­dungs­be­ru­fe be­reits ver­stri­chen wa­ren, muss­te kurz­fris­tig eine sinn­vol­le Al­ter­na­ti­ve her. Da so­wohl ihre El­tern als auch ihre Tan­te und Oma in so­zia­len Be­ru­fen tä­tig sind, kam Lena auf die Idee, sich im Bun­des­frei­wil­li­gen­dienst zu en­ga­gie­ren und die Zeit als Ori­en­tie­rungs­jahr zu nut­zen. So kam Lena zur Ca­ri­tas-Werk­statt St. Johannesberg.

Die un­ter­schied­li­chen An­ge­bo­te der Ca­ri­tas-Werk­statt St. Jo­han­nes­berg bie­ten den fünf Bun­des­frei­wil­li­gen, die hier wie Lena ein Jahr lang Er­fah­run­gen für ih­ren wei­te­ren Le­bens­weg sam­meln kön­nen, viel­fäl­ti­ge Ori­en­tie­rungs- und Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten. Ne­ben ei­ner Holz­ver­ar­bei­tung gibt es un­ter an­de­rem eine Me­tall­ver­ar­bei­tung, Gar­ten- und Land­schafts­pfle­ge oder die Groß­kü­che “Can­ti­na” samt Ca­te­ring­ser­vice. Die fest­an­ge­stell­ten Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter sind ent­spre­chend als Tech­ni­ker, Kö­che oder So­zi­al­päd­ago­gen, Gar­ten­bau­in­ge­nieu­re, Ver­wal­tungs­an­ge­stell­te oder Hei­ler­zie­hungs­pfle­ger aus­ge­bil­det. Tat­kräf­ti­ge Un­ter­stüt­zung er­hal­ten sie von den Bun­des­frei­wil­li­gen, die die Be­schäf­tig­ten bei ih­rer Ar­beit und den all­täg­li­chen Ver­rich­tun­gen begleiten.

Hil­fe anbieten
Le­nas Tag in St. Jo­han­nes­berg be­ginnt um 7:00 Uhr. Sie be­rei­tet ein ge­mein­sa­mes Früh­stück vor, be­spricht sich mit den Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen in der Grup­pen­lei­ter­sit­zung und be­glei­tet an­schlie­ßend ei­ni­ge der Be­schäf­tig­ten zur Ar­beit. Le­nas Grup­pe be­steht ins­ge­samt aus sie­ben Be­schäf­tig­ten. Drei von ih­nen sind auf ei­nen Roll­stuhl an­ge­wie­sen und teil­wei­se stark in den Be­we­gun­gen der Arme und Hän­de ein­ge­schränkt. Die er­for­der­li­che Be­glei­tung wird durch zwei haupt­amt­li­che Hei­ler­zie­hungs­pfle­ger ge­währ­leis­tet. Lena hilft dort, wo sie be­nö­tigt wird. Heu­te un­ter­stützt sie Pe­tra und Mary bei den Web­ar­bei­ten. Al­ter­na­ti­ve krea­ti­ve An­ge­bo­te für die Be­schäf­tig­ten in Le­nas Grup­pe sind “Sei­fe gie­ßen” und “Kar­ten bas­teln”. Auch ein Ru­he­raum zum “Run­ter kom­men” steht bei Be­darf je­der­zeit für die Be­schäf­tig­ten zur Verfügung.

Ab 11:30 Uhr wird in der Can­ti­na ein ge­mein­sa­mes Mit­tag­essen an­ge­bo­ten. Heu­te küm­mert sich Lena um den 20-jäh­ri­gen Rene, der in sei­nen Be­we­gun­gen stark ein­ge­schränkt ist und Hil­fe beim Es­sen be­nö­tigt. Die BFD­le­rin pü­riert ein Nu­del­ge­richt und setzt sich in der haus­ei­ge­nen Kü­che zu­sam­men mit ihm an den Ess­tisch. Zum Nach­tisch gibt es eine dop­pel­te Por­ti­on Früch­te­jo­gurt, die Rene an­stands­los ver­putzt. Mit ei­ner Ser­vi­et­te ge­winnt die Bun­des­frei­wil­li­ge Re­nes Auf­merk­sam­keit für ein ge­mein­sa­mes Foto. Der scheint von dem knis­tern­den Pa­pier ganz an­ge­tan zu sein und re­agiert po­si­tiv auf die klei­ne Un­ter­hal­tung au­ßer der Rei­he. Da­nach geht Lena ge­mein­sam mit ih­rer Grup­pe zum Es­sen in die Cantina.

Am frü­hen Nach­mit­tag keh­ren die ers­ten Be­schäf­tig­ten in ihre Woh­nun­gen zu­rück. Dazu wer­den ei­ni­ge an­ge­klei­det und be­glei­tet. Lena be­glei­tet heu­te Mar­co von der Werk­statt zu sei­ner Woh­nung. Doch erst ein­mal un­ter­stützt sie ihn beim An­klei­den. Der 31-Jäh­ri­ge ist schweig­sam und zu­nächst et­was un­si­cher. Schließ­lich wil­ligt er aber ein, sich mit Lena zu­sam­men fo­to­gra­fie­ren zu las­sen. Er freut sich über die Auf­merk­sam­keit und Le­nas ver­trau­te Hil­fe gibt ihm sei­ne ge­wohn­te Si­cher­heit zu­rück. Ge­mein­sam meis­tern die bei­den sou­ve­rän das nicht ganz ein­fa­che An­klei­den- ein klei­nes Er­folgs­er­leb­nis, das bei­den sicht­lich gut tut. Nach­dem sie Mar­co zu sei­ner Woh­nung ge­bracht hat, en­det für Lena ge­gen 15:30 Uhr der Tag in St. Johannesberg.

Lo­cker bleiben
“Man muss ler­nen, sich den Be­schäf­tig­ten ge­gen­über zu be­wei­sen, da­mit sie auf ei­nen hö­ren. Dann kann man auch ganz of­fen und frei mit ih­nen ar­bei­ten”, be­rich­tet Lena von ih­rer ers­ten Zeit in der Ein­satz­stel­le. Da­bei ha­ben die Be­schäf­tig­ten sie von Be­ginn an herz­lich auf­ge­nom­men. Mit der Zeit lern­te Lena dann, be­hut­sam ihre Au­to­ri­tät ge­gen­über den Be­schäf­tig­ten zu be­haup­ten, um ge­mein­sam mit ih­nen den All­tag zu ge­stal­ten. Die Grup­pen­lei­ter stärk­ten der Bun­des­frei­wil­li­gen da­bei von An­fang an den Rü­cken und er­leich­ter­ten ihr die­sen Pro­zess. Auch das täg­li­che Ge­spräch mit den haupt­amt­li­chen Be­treue­rin­nen und Be­treu­ern half ihr da­bei, im Um­gang mit den Be­schäf­tig­ten si­che­rer und selbst­be­wuss­ter zu werden.

Di­rekt nach dem Abi stu­die­ren zu müs­sen? Von die­sem selbst auf­er­leg­ten Druck hat sich Lena nach der ers­ten Hälf­te ih­res Bun­des­frei­wil­li­gen­diens­tes be­freit. Zu­nächst fiel es ihr schwer, sich von ih­rem Per­fek­tio­nis­mus zu lö­sen. Aber ihre Er­fah­run­gen mit den Be­schäf­tig­ten, die durch­aus ih­ren ei­ge­nen Kopf ha­ben kön­nen und nicht al­les per­fekt ma­chen, ha­ben sie et­was an­de­res ge­lehrt: Die Din­ge lo­cke­rer se­hen, sich ein­brin­gen und die Men­schen neh­men, wie sie sind.

Er­fah­rung sammeln
Die­se Ent­wick­lun­gen emp­fin­det die 19-Jäh­ri­ge als ei­nen un­ge­heu­ren Schatz, den sie im St. Jo­han­nes­berg er­hal­ten hat.

Auch ihre Be­rufs- und Stu­di­en­wün­sche ha­ben sich ge­wan­delt. In ih­rer Ge­mein­de hat sie sich auf eine Stel­le als Er­zie­he­rin mit be­rufs­be­glei­ten­der Aus­bil­dung be­wor­ben. So­bald es geht, will sie sich par­al­lel auch für den Stu­di­en­gang “So­zia­le Ar­beit” be­wer­ben. Der Be­darf für die­se Be­rufs­rich­tung ist groß und ihre Aus­sich­ten auf eine An­stel­lung sind viel­ver­spre­chend. Doch erst ein­mal wid­met sich Lena voll und ganz ih­rem Bun­des­frei­wil­li­gen­dienst und den Be­schäf­tig­ten in ih­rer Gruppe.

So­zia­le und ge­sell­schaft­li­che Verantwortung
In der Ca­ri­tas-Werk­statt St. Jo­han­nes­berg in Ora­ni­en­burg ar­bei­ten ca. 400 Men­schen mit ei­ner Be­hin­de­rung in ei­nem hoch­mo­der­nen Fer­ti­gungs- und Dienst­leis­tungs­be­trieb. Seit 1991 wer­den die Be­schäf­tig­ten hier mit un­ter­schied­li­chen Tä­tig­kei­ten in ver­schie­de­nen Pro­duk­ti­ons­pro­zes­sen ein­ge­bun­den und kön­nen so am Ar­beits­lei­ben teil­ha­ben. Die Werk­stät­ten sind über drei Stand­or­te in Raum Ora­ni­en­burg ver­teilt und ko­ope­rie­ren eng mit ört­li­chen Hand­werks­be­trie­ben und der In­dus­trie in der Um­ge­bung. Die Bun­des­frei­wil­li­gen un­ter­stüt­zen die haupt­amt­li­chen Fach­kräf­te bei der Be­treu­ung und An­lei­tung in ei­ner Viel­zahl von Be­rufs­fel­dern. Da­bei för­dern sie die be­ruf­li­chen und per­sön­li­chen Kom­pe­ten­zen der Be­schäf­tig­ten. Die gan­ze Viel­falt der An­ge­bo­te gibt es un­ter www.caritas-werkstatt.com