Of­fe­ner Brief der Caritas-Werkstatt

8. Mai 2021 | Allgemein, Logbuch | 0 Kommentare

Lie­be Frau Langensiepen,

in Ih­rem Be­richt zur Lage von Men­schen mit Be­hin­de­rung in der Eu­ro­päi­schen Uni­on und in an­de­ren öf­fent­li­chen Auf­trit­ten tre­ten Sie ein für Ihre, wie Sie es nen­nen: “Kern­for­de­rung”, der Ab­schaf­fung von Werk­stät­ten für be­hin­der­te Men­schen. Als So­zi­al­po­li­ti­sche Spre­che­rin Ih­rer Frak­ti­on im EU-Par­la­ment be­sitzt Ihre Stim­me qua Amt Ge­wicht, Reich­wei­te und öf­fent­li­che Glaub­wür­dig­keit. Ich bin mir al­ler­dings nicht si­cher, ob die Ar­beits­welt, für die Sie sich po­li­tisch ein­set­zen – eine Welt ohne Werk­stät­ten – tat­säch­lich die Ant­wort auf die Le­bens­si­tua­ti­on der Men­schen ist, die heu­te in ei­ner Werk­statt be­schäf­tigt sind.

In Deutsch­land le­ben etwa drei Mil­lio­nen Men­schen im er­werbs­fä­hi­gen Al­ter mit ei­ner Schwer­be­hin­de­rung, 320.000 von Ih­nen sind in ei­ner Werk­statt be­schäf­tigt. Es lässt sich also nicht von “den” Men­schen mit Be­hin­de­rung spre­chen, son­dern von ei­nem klei­nen Teil, näm­lich gut zehn Pro­zent von ih­nen, die in ei­ner Werk­statt be­schäf­tigt sind. Die Werk­statt ist nicht das pas­sen­de An­ge­bot für ei­nen schwer­be­hin­der­ten Men­schen schlecht­hin, aber für die­sen klei­nen Teil viel­leicht schon.

Da­von ab­ge­se­hen, dass es zahl­rei­che, viel­leicht auch zu we­ni­ge, ge­lun­ge­ne Bei­spie­le für die Ver­mitt­lung aus der Werk­statt in den Ar­beits­markt gibt: Wel­chen Ar­beits­markt mei­nen Sie ei­gent­lich? Werks­ver­trä­ge beim On­lin­ever­sand­händ­ler? Die fleisch­ver­ar­bei­ten­de In­dus­trie? Die Pa­ket­zu­stel­lung? Al­les Aber­mil­lio­nen von Ar­beits­plät­zen, die Sie al­lein schon des­halb für er­stre­bens­wert hal­ten, weil sie mit dem Gü­te­sie­gel “Ers­ter Ar­beits­markt” ge­la­belt sind.

Kön­nen Sie sich vor­stel­len, dass nicht we­ni­ge Be­schäf­tig­te un­se­rer Werk­statt ihre Be­rufs­er­fah­run­gen jah­re­lang ge­nau dort ge­macht ha­ben? Und kön­nen Sie sich vor­stel­len, dass sie mit die­sen Er­fah­run­gen ge­nau wis­sen, was sie nun nicht mehr wol­len? Dass ihre “Be­hin­de­rung” dort viel prä­sen­ter und be­wuss­ter ist, als in der Werk­statt? Wir ver­mei­den in un­se­rem Haus den Be­griff “Be­hin­de­rung”, nen­nen uns Werk­statt zur be­ruf­li­chen Teil­ha­be und ver­ste­hen uns auch so.

Wel­chem Werk­statt­be­schäf­tig­ten ist ge­hol­fen, wenn die Werk­stät­ten, wie von Ih­nen an­ge­strebt, schlie­ßen? Die Werk­stät­ten sind nicht per­fekt, der Ar­beits­markt ist es auch nicht. Die Werk­zeu­ge in un­se­rem Kof­fer be­ruf­li­cher Teil­ha­be sind viel­leicht nicht ganz scharf. Nur wird das eine Werk­zeug nicht schär­fer, in­dem Sie das an­de­re Werk­zeug ent­sor­gen. Ar­beit ist nicht per se er­stre­bens­wert, sie braucht Wür­de, die Mög­lich­keit des Ge­lin­gens, bes­ten­falls: des ge­mein­sa­men Ge­lin­gens, des per­sön­li­chen Wachsens.

Werk­stät­ten ste­hen au­ßer­halb der Wett­be­werbs­be­din­gun­gen des Ar­beits­mark­tes. Ge­nau das ist ihre Le­gi­ti­ma­ti­on. In ei­ner Markt­wirt­schaft gibt es kei­nen Ar­beits­markt ohne Wett­be­werb. Jede Be­schäf­ti­gungs­form, die au­ßer­halb die­ser Wett­be­werbs­be­din­gun­gen steht, be­darf staat­li­cher Ein­grif­fe und ist, wenn man so will, eine “Son­der­ein­rich­tung”. Viel­leicht ist das Leis­tungs­prin­zip des Ar­beits­mark­tes aber auch nicht die pas­sen­de Ant­wort auf die Le­bens­si­tua­ti­on ei­nes klei­nen Teils von Men­schen mit ei­ner Schwer­be­hin­de­rung. Das macht die De­bat­te um ei­nen Min­dest­lohn in Werk­stät­ten aber et­was kom­ple­xer. Der Min­dest­lohn ist ein Pro­dukt der Leis­tungs­be­din­gun­gen des Ar­beits­mark­tes, die in ei­ner Werk­statt aus gu­ten Grün­den nicht gelten.

Die Ei­gen­lo­gik von Werk­stät­ten kann kei­ne rein be­triebs­wirt­schaft­li­che sein, die den Prin­zi­pi­en von Ef­fi­zi­enz­stei­ge­rung und Ar­beits­kraft­ver­wer­tung ver­pflich­tet ist. Werk­stät­ten re­du­zie­ren nicht ihre “Be­leg­schaft”, weil es die Auf­trags­la­ge na­he­legt, wir tren­nen uns nicht von sinn­vol­len aber we­ni­ger er­trag­rei­chen Auf­trä­gen – und auch nicht von Be­schäf­tig­ten, die zum ge­werb­li­chen Ge­samt­ergeb­nis viel­leicht nur ei­nen klei­nen Bei­trag leis­ten kön­nen. All das wäre mit Blick auf die ge­sell­schaft­li­che Auf­ga­be von Werk­stät­ten ab­surd – für eine wirt­schaft­li­che Er­trags­stei­ge­rung aber notwendig.

Des­halb wird eine Werk­statt­be­schäf­ti­gung nie un­ab­hän­gig von wei­ter­ge­hen­den So­zi­al­leis­tun­gen zu se­hen sein. Zählt man die­se hin­zu, sieht die Ein­kom­mens­si­tua­ti­on von Werk­statt­be­schäf­tig­ten schon et­was an­ders aus. Man könn­te im­mer noch sa­gen, dass dies zu we­nig ist – so wie es für an­de­re Be­zie­her von So­zi­al­leis­tun­gen auch zu we­nig ist. Werk­stät­ten sind nur als So­zi­al­leis­tung zu ver­ste­hen, als Er­gän­zung zum Ar­beits­markt – nicht aber als Teil des Ar­beits­mark­tes mit Ta­rif­par­tei­en und Mindestlohn.

Wo­für ich mich al­ler­dings stark ma­che, ist eine Bün­de­lung al­ler Leis­tungs­an­sprü­che über die Werk­statt­be­schäf­ti­gung. Auch ich hal­te es für ein Är­ger­nis, dass Werk­statt­be­schäf­tig­te nach Fei­er­abend zum So­zi­al­amt ge­hen müs­sen, um dort ihre An­sprü­che gel­tend zu ma­chen. Es soll­te or­ga­ni­sier­bar sein, dass über die Werk­statt­be­schäf­ti­gung, die oh­ne­hin be­reits die ge­sam­te So­zi­al­ver­si­che­rung um­fasst, auch alle wei­ter­ge­hen­den An­sprü­che ab­ge­gol­ten wer­den – dann wür­de aus So­zi­al­leis­tun­gen ein “Ver­dienst” werden.

Die öf­fent­li­che Ge­ring­schät­zung der Werk­stät­ten, an der Sie mit Ih­ren State­ments mit­wir­ken, trifft nicht nur die In­sti­tu­tio­nen, son­dern auch die Men­schen mit Be­hin­de­rung, die in ih­nen be­schäf­tigt sind. Des­halb bit­te ich Sie, die De­bat­te um die Da­seins­be­rech­ti­gung von Werk­stät­ten nicht nur von au­ßen zu füh­ren. Su­chen Sie den Kon­takt zu Be­schäf­tig­ten und ih­ren ge­wähl­ten In­ter­es­sen­ver­tre­tun­gen, den Werk­statt­rä­ten und Gre­mi­en auf Lan­des- und Bun­des­ebe­ne, be­su­chen Sie Werk­stät­ten vor Ort.

Nichts über uns ohne uns! lau­tet der zen­tra­le Grund­satz der UN-Be­hin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on. Dies muss auch für die Dis­kus­si­on um die Werk­stät­ten gel­ten: Nichts über die Werk­stät­ten ohne die Be­schäf­tig­ten! Ich bin über­zeugt, dass Ihr Bild von Werk­stät­ten neue Fa­cet­ten be­kom­men wird. Sie sind je­der­zeit willkommen.

Es grüßt Sie herzlich
Chris­toph Lau.

 

 

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