Liebe Frau Langensiepen,
in Ihrem Bericht zur Lage von Menschen mit Behinderung in der Europäischen Union und in anderen öffentlichen Auftritten treten Sie ein für Ihre, wie Sie es nennen: “Kernforderung”, der Abschaffung von Werkstätten für behinderte Menschen. Als Sozialpolitische Sprecherin Ihrer Fraktion im EU-Parlament besitzt Ihre Stimme qua Amt Gewicht, Reichweite und öffentliche Glaubwürdigkeit. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob die Arbeitswelt, für die Sie sich politisch einsetzen – eine Welt ohne Werkstätten – tatsächlich die Antwort auf die Lebenssituation der Menschen ist, die heute in einer Werkstatt beschäftigt sind.
In Deutschland leben etwa drei Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter mit einer Schwerbehinderung, 320.000 von Ihnen sind in einer Werkstatt beschäftigt. Es lässt sich also nicht von “den” Menschen mit Behinderung sprechen, sondern von einem kleinen Teil, nämlich gut zehn Prozent von ihnen, die in einer Werkstatt beschäftigt sind. Die Werkstatt ist nicht das passende Angebot für einen schwerbehinderten Menschen schlechthin, aber für diesen kleinen Teil vielleicht schon.
Davon abgesehen, dass es zahlreiche, vielleicht auch zu wenige, gelungene Beispiele für die Vermittlung aus der Werkstatt in den Arbeitsmarkt gibt: Welchen Arbeitsmarkt meinen Sie eigentlich? Werksverträge beim Onlineversandhändler? Die fleischverarbeitende Industrie? Die Paketzustellung? Alles Abermillionen von Arbeitsplätzen, die Sie allein schon deshalb für erstrebenswert halten, weil sie mit dem Gütesiegel “Erster Arbeitsmarkt” gelabelt sind.
Können Sie sich vorstellen, dass nicht wenige Beschäftigte unserer Werkstatt ihre Berufserfahrungen jahrelang genau dort gemacht haben? Und können Sie sich vorstellen, dass sie mit diesen Erfahrungen genau wissen, was sie nun nicht mehr wollen? Dass ihre “Behinderung” dort viel präsenter und bewusster ist, als in der Werkstatt? Wir vermeiden in unserem Haus den Begriff “Behinderung”, nennen uns Werkstatt zur beruflichen Teilhabe und verstehen uns auch so.
Welchem Werkstattbeschäftigten ist geholfen, wenn die Werkstätten, wie von Ihnen angestrebt, schließen? Die Werkstätten sind nicht perfekt, der Arbeitsmarkt ist es auch nicht. Die Werkzeuge in unserem Koffer beruflicher Teilhabe sind vielleicht nicht ganz scharf. Nur wird das eine Werkzeug nicht schärfer, indem Sie das andere Werkzeug entsorgen. Arbeit ist nicht per se erstrebenswert, sie braucht Würde, die Möglichkeit des Gelingens, bestenfalls: des gemeinsamen Gelingens, des persönlichen Wachsens.
Werkstätten stehen außerhalb der Wettbewerbsbedingungen des Arbeitsmarktes. Genau das ist ihre Legitimation. In einer Marktwirtschaft gibt es keinen Arbeitsmarkt ohne Wettbewerb. Jede Beschäftigungsform, die außerhalb dieser Wettbewerbsbedingungen steht, bedarf staatlicher Eingriffe und ist, wenn man so will, eine “Sondereinrichtung”. Vielleicht ist das Leistungsprinzip des Arbeitsmarktes aber auch nicht die passende Antwort auf die Lebenssituation eines kleinen Teils von Menschen mit einer Schwerbehinderung. Das macht die Debatte um einen Mindestlohn in Werkstätten aber etwas komplexer. Der Mindestlohn ist ein Produkt der Leistungsbedingungen des Arbeitsmarktes, die in einer Werkstatt aus guten Gründen nicht gelten.
Die Eigenlogik von Werkstätten kann keine rein betriebswirtschaftliche sein, die den Prinzipien von Effizienzsteigerung und Arbeitskraftverwertung verpflichtet ist. Werkstätten reduzieren nicht ihre “Belegschaft”, weil es die Auftragslage nahelegt, wir trennen uns nicht von sinnvollen aber weniger ertragreichen Aufträgen – und auch nicht von Beschäftigten, die zum gewerblichen Gesamtergebnis vielleicht nur einen kleinen Beitrag leisten können. All das wäre mit Blick auf die gesellschaftliche Aufgabe von Werkstätten absurd – für eine wirtschaftliche Ertragssteigerung aber notwendig.
Deshalb wird eine Werkstattbeschäftigung nie unabhängig von weitergehenden Sozialleistungen zu sehen sein. Zählt man diese hinzu, sieht die Einkommenssituation von Werkstattbeschäftigten schon etwas anders aus. Man könnte immer noch sagen, dass dies zu wenig ist – so wie es für andere Bezieher von Sozialleistungen auch zu wenig ist. Werkstätten sind nur als Sozialleistung zu verstehen, als Ergänzung zum Arbeitsmarkt – nicht aber als Teil des Arbeitsmarktes mit Tarifparteien und Mindestlohn.
Wofür ich mich allerdings stark mache, ist eine Bündelung aller Leistungsansprüche über die Werkstattbeschäftigung. Auch ich halte es für ein Ärgernis, dass Werkstattbeschäftigte nach Feierabend zum Sozialamt gehen müssen, um dort ihre Ansprüche geltend zu machen. Es sollte organisierbar sein, dass über die Werkstattbeschäftigung, die ohnehin bereits die gesamte Sozialversicherung umfasst, auch alle weitergehenden Ansprüche abgegolten werden – dann würde aus Sozialleistungen ein “Verdienst” werden.
Die öffentliche Geringschätzung der Werkstätten, an der Sie mit Ihren Statements mitwirken, trifft nicht nur die Institutionen, sondern auch die Menschen mit Behinderung, die in ihnen beschäftigt sind. Deshalb bitte ich Sie, die Debatte um die Daseinsberechtigung von Werkstätten nicht nur von außen zu führen. Suchen Sie den Kontakt zu Beschäftigten und ihren gewählten Interessenvertretungen, den Werkstatträten und Gremien auf Landes- und Bundesebene, besuchen Sie Werkstätten vor Ort.
Nichts über uns ohne uns! lautet der zentrale Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention. Dies muss auch für die Diskussion um die Werkstätten gelten: Nichts über die Werkstätten ohne die Beschäftigten! Ich bin überzeugt, dass Ihr Bild von Werkstätten neue Facetten bekommen wird. Sie sind jederzeit willkommen.
Es grüßt Sie herzlich
Christoph Lau.
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