Werkstatt unter Druck
Werkstatt unter Druck
Postwurfsendung der Lehnitzer Firma Terratest fordert alle Caritas-Beschäftigten
Oranienburg. In der Caritas-Werkstatt am Aderluch herrscht gerade Ausnahmezustand: Fast alle Abteilungen sind damit beschäftigt, eine Postwurfsendung aus Lehnitz zu sortieren, zu falten, in Umschläge zu stecken und versandfertig zu machen. Gelbe Postkisten stapeln sich im Lager. 54 982 große Umschläge müssen bis Mitte nächster Woche fertig sein und versendet werden. In den Briefen befindet sich Werbung der Lehnitzer Firma Terratest. Das Unternehmen vertreibt Geräte zur einfachen Messung der Bodendichte. Der ermittelte Wert ist wichtig für Straßenbauarbeiten oder das Verlegen von Gehwegplatten. Die Geräte können große Messfahrtzeuge ersetzen und sind auch an schwer zugänglichen Ecken nutzbar.
„Mach es dir selbst! Verdichtung einfach selber testen“, lautet daher das Angebot zur Osteraktion von Terratest. Beworben wird der „Terratest 4000 Stream“ von einer knapp bekleideten Frau in Hotpants, die das Messgerät mit Leichtigkeit bedient. Mehrere Seiten Werbung und Informationen werden an Tiefbauunternehmen und Garten- und Landschaftsbaufirmen in ganz Deutschland versendet. „Ein toller Auftrag für uns“, sagt Werkstattleiter Marcel Teichmanri. Die Aufgaben seien Ideal für die Beschäftigten. Auch im Bereich B.Plus, in dem Menschen mit besonderer Förderung arbeiten, können die unterschiedlichen Aufgaben des Auftrags gut verteilt werden. „Die Beschäftigten freuen sich über die Abwechslung. Das ist eine ganz tolle Aufgabe mit vielen verschiedenen Arbeitsschritten“, sagt Sozialarbeiterin Angelika Geißler.
Die aufwendigen Falt- und Steckarbeiten könnten von keiner Maschine bewältigt werden. Die Caritas-Werkstatt würde sich daher über weitere solcher Aufträge freuen. Terratest vergibt zweimal jährlich Mailingaufträge. Andere Arbeiten in der Werkstatt am Aderluch werden bis zur Erledigung der Post zurückgestellt. Wichtigster Auftraggeber ist der Berliner Schulbedarf- und Büroartikelhersteller Herlitz. Außerdem werden Bolzen für Möbel hergestellt. Der Bereich Faktor C befindet sich unterm selben Dach. Folien von Orafol werden für Werbung zurecht geschnitten, die zum Beispiel auf Schildern und Autos kleben. So werden die Fahrzeuge der Berliner Ordnungsämter mit reflektierenden Buchstaben versehen.
„Wir haben auf jeden Fall noch Kapazitäten und freuen uns über neue Aufträge“, sagt Marcel Teichmann. Die Caritas Werkstätten seien mit Orafol gewachsen. Überhaupt kommen die meisten Aufträge aus der Region. Die Garten- und Landschaftsbauer sind mit den Außenanlagen des Takeda-Anbaus beschäftigt, die Caritas-Küche liefert unter anderem Essen für den Pflegedienst Gehrmann, die Kita Leuchtturm und für die eigene Belegschaft. Am Aderluch werden in einem Hygienebereich außerdem Glasröhrchen für Blutproben im Auftrag von Thermo Fisher sortiert und geprüft. Ursprünglich war die Werkstatt im früheren Aldi-Markt für die Teileproduktion für einen Autozulieferer bestimmt. Doch der Auftrag ging verloren. Die Werkstatt mit 67 Beschäftigten hat Platz für neue Aufträge. „Das ist ein schöner kleiner Standort“, sagt Marcel Teichmann. Vergangene Woche konnte er mit Martina Glauke die siebte Gruppenleiterin im Team begrüßen.
Lohn
- Hunderte Menschen mit Behinderung arbeiten in den Werkstätten von Caritas (350 Plätze) und Lebenshilfe (Nordbahn, 400 Plätze). Dafür bekommen sie zusätzlich zur Grundsicherung meist 150 bis 200 Euro. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat zuletzt mehr Lohn verlangt. Die Beschäftigten müssten von ihrem Verdienst leben können.
- Ein Werkstattplatz kostet bis zu 3000 Euro monatlich – finanziert durch Rentenversicherung, Krankenkassen und Landkreis. Bei einer Entlohnung der Beschäftigten wird deren Grundsicherung entsprechend gekürzt.
- Christoph Lau, Geschäftsführer der Oranienburger Caritas-Werkstätten, sagt dazu: „Der gesetzliche Auftrag von Werkstätten ist die berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung. „Die Werkstätten dienten nicht der gewerbliche Betätigung, sondern den Beschäftigten mit ihren Ansprüchen auf berufliche Förderung. Über eine Aufnahme entscheiden nicht die Werkstätten selbst. Es gibt einen Anspruch auf Aufnahme. Die Eigenlogik von Werkstätten könne schon aus diesem Grund keine betriebswirtschaftliche sein, die den Prinzipien von Effizienzsteigerung und Arbeitskraftverwertung verpflichtet ist. „Werkstätten reduzieren nicht ihre ‚Belegschaft‘, weil es die Auftragslage nahelegt“, so Lau.
- „Deshalb wird eine Werkstattbeschäftigung nie unabhängig von weitergehenden Sozialleistungen zu sehen sein. Zählt man diese hinzu, sieht die Einkommenssituation von Werkstattbeschäftigten anders aus. Werkstätten sind nur als Sozialleistung zu verstehen, als Ergänzung zum Arbeitsmarkt – nicht aber als Teil des Arbeitsmarktes“, sagt Lau. Leistungsansprüche sollten gebündelt werden. Er halte es für ein Ärgernis, dass Werkstattbeschäftigte zum Sozialamt gehen müssten, um ihre Ansprüche geltend zu machen. „Es sollte organisierbar sein, dass über die Beschäftigung, die ohnehin bereits die gesamte Sozialversicherung umfasse, auch alle weitergehenden Ansprüche abgegolten werden-dann würde aus Sozialleistungen ein ‚Verdienst‘ werden“, so Lau.
- Uta Gerber, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Oberhavel-Süd, sieht das ähnlich. Sie macht aber auch klar, dass im Sinne der Inklusion alle Menschen mit Behinderung in den Ersten Arbeitsmarkt integriert werden müssten. „Das wäre die Ideallösung.“ Letztlich würden sich Firmen mit ihren Aufträgen an die Werkstätten von dieser Verpflichtung befreien. (kd)